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Freitag, 02. September 2024

Sag tschüss zum Autopilot

Lesezeit 4 Min

Falls du mal mit mir gearbeitet hast, weißt du, dass ich immer wieder auf ein spezielles Thema zurückkomme: dem Muskelgedächtnis.

Nicht nur in meiner Arbeit mit Sängerinnen und Sängern, sondern auch in Chören und Vokalensemble predige ich immer wieder, wie wichtig. Es ist, das gelernte durch gezieltes Wiederholen und Üben in das Muskelgedächtnis ein zu trainieren.

Chören und Vokalensemble predige ich immer wieder, wie wichtig es ist, das gelernte durch gezieltes Wiederholen und Üben in das Muskelgedächtnis ein zu trainieren.

Nur wenn das Gelernte im Muskelgedächtnis verankert ist, können wir beim Musizieren loslassen und uns nicht mehr mit der Technik beschäftigen.

Allerdings ist das Muskelgedächtnis nicht das Ende vom Lied. Denn es hat auch einen entscheidenden Nachteil.

Muskelgedächtnis nicht das Ende vom Lied. Denn es hat auch einen entscheidenden Nachteil.

Auf Autopilot

Vielleicht kennst du es vielleicht auch: Du stehst auf der Bühne – im Chor oder auch solistisch – und während du singst, driften deine Gedanken ab. Die Abläufe und die Musik sitzen so tief, dass du gar nicht mehr darüber nachdenken musst. Und deine Intuition, dein Muskelgedächtnis, übernimmt die Arbeit.

So kannst du während eines Auftritts zum Beispiel an das Mittagessen von morgen denken.

Allerdings, und da sehen wir uns wahrscheinlich einig, ist das für die Musik nicht gerade vorteilhaft.

Aus der Musik, die wir mit so viel Arbeit in unser Muskelgedächtnis ein trainiert haben und automatisiert ablaufen kann, wird etwas Teilnahmsloses. Etwas, bei dem der Ausdruck und die Musik in den Hintergrund gerät, weil gerade das Mittagessen von morgen wichtiger scheint.

Zugegeben, dieses Problem ist ein Luxusproblem. Immerhin können wir das gelernte schon so gut, dass wir nicht mehr darüber nachdenken müssen.

Finde, dass der Begriff Autopilot so gut passt. Der Autopilot ist das automatisierte System, das übernimmt, wenn gerade keiner  am Steuer sitzt. Es ist gerade so gut genug und man kommt auch immer irgendwie zuhause an, aber so richtig wohl fühlen wir uns dabei nicht und man kann dabei auch nicht wirklich überragende Qualität erwarten.

Bevor wir uns jetzt aber damit befassen, wie wir den Autopiloten umgehen, müssen wir verstehen, was dieses Muskelgedächtnis eigentlich ist.

Das Muskelgedächtnis

Das Muskelgedächtnis ist das, was wir trainieren, wenn wir physische Aktivitäten so oft wiederholen, dass die Ausführung dieser Aufgaben zu einer „automatisierten“ Aktivität wird.

Die Bewegungen werden effizienter und genauer, selbst ohne bewusste Kontrolle. Für Sänger bedeutet dies, dass die Koordination von Atem, Körperhaltung und der Stimme mit weniger bewusster Anstrengung erfolgen kann.

Wenn wir eine neue Fähigkeit erlernen, beginnen wir mit bewussten Anstrengungen, bei denen jeder Schritt mühsam und bedacht ist. Dies ist die Phase des kognitiven Lernens, in der unser Gehirn aktiv Informationen verarbeitet und versucht, neue Konzepte zu verstehen und muskuläre Abläufe zu verinnerlichen.

Mit fortschreitender Übung beginnt der Übergang ins Muskelgedächtnis. Durch konstante Wiederholung werden diese Muster dann zunehmend automatisiert, was bedeutet, dass sie mit weniger kognitivem Aufwand und mehr Effizienz ausgeführt werden können.

Automation klingt allerdings genau nach dem, was es ist: leblos und monoton.

Sobald Fähigkeiten so tief verankert sind, dass sie automatisch ablaufen können, besteht der eigentliche Kraftaufwand darin, diese bewusst im Moment – also intuitiv – abzurufen.

Intuition

Intuition wird oft mit einem „Gespür“ oder einem „sechsten Sinn“ beschrieben. Sie ist das Produkt intensiver Erfahrung und Übung, die sich zu einem reichen Reservoir an unbewussten Wissensressourcen zusammensetzt. Erfahrene Sänger nutzen dieses intuitive Wissen, um Harmonien, Tonfolgen und emotionale Nuancen instinktiv und in Echtzeit zu interpretieren und auf äußere Umstände zu reagieren.

Idealerweise ist unser Gesang zu 100 % von Emotionen geleitet, von dem, was wir ausdrücken wollen. Unsere Intuition bedient sich dann an dem Pool an Ressourcen in unserem Muskelgedächtnis, um diese Anweisungen durchzuführen.

Der Unterschied zwischen Intuition und Muskelgedächtnis liegt also in ihrer Anwendung. Intuition beinhaltet eine tiefere Ebene der Verarbeitung, die Wahrnehmung, Emotionen und Entscheidungsfindung umfasst. Das Muskelgedächtnis hingegen bezieht sich auf die physische Ausführung und Präzision, die durch Wiederholung entsteht. Während sich Intuition auf das „Warum“ und „Was“ fokussiert, konzentriert sich das Muskelgedächtnis auf das „Wie“ der Ausführung.

Wie kommt man jetzt also aus dem Autopiloten? Zugegeben, das Konzept der Intuition ist sehr abstrakt. Du bist ihr aber sicherlich auch in Form des Begriffs „Präsenz“ begegnet.

Ich würde nicht zwangsläufig die Begriffe Intuition und Präsenz gleichsetzen. Aber in der Präsenz finden wir den Weg, wie wir unserer Intuition die Fäden überlassen, um die Musik so zu gestalten, wie wir sie gerade fühlen.

Das Steuer wieder übernehmen

Es gibt Momente, da ist es sehr hilfreich, wenn sich der Autopilot anschaltet. In gewisser Weise ist er ja auch der „sichere Hafen“, auf den wir zurückfallen können, sobald Dinge nicht wie geplant laufen. Wenn das Adrenalin überschießt oder wir mit einer Erkältung auf der Bühne stehen, können wir heilfroh darüber sein, dass sich unser Körper an die Abläufe erinnert. Manchmal ist das geringere Übel eben eine etwas weniger musikalische Performance.

Wie aber aus dem Autopiloten herauskommen, wenn wir feststellen, dass wir häufiger mit leerem Blick auf der Bühne stehen?

Folgende Strategien konnten mir dabei in der Vergangenheit sehr helfen:

  1. Emotionale Verbindung zur Musik: Sei dir der emotionalen Botschaft bewusst, die das Gesungene transportiert. Überlege dir, welche Gefühle du mit dem Stück verbindest und wie du diese Gefühle beim Singen ausdrücken kannst.
  2. Variation & Improvisation: Variiere Passagen beim Singen und baue bewusst Stellen ein, die du gestalterisch offen lässt. Beim Improvisieren fällt es deutlich schwerer abzuschalten. Das kann Dinge wie Tempo und Dynamik beinhalten, aber auch melodische Variation oder gar ganze improvisierte Scat-Soli.
  3. Aufgabenstellung während des Auftritts: Stelle dir konkrete Aufgaben kurz vor dem Auftritt. Worauf möchtest du bei diesem Konzert besonders Achten? Dynamik, Präsenz, Tempo, Bewegung, etc.?

Monotonie entsteht häufig deshalb, dass wir Abläufe zu oft wiederholen, die wir schon zu gut können. Indem wir bewusst und zielgerichtet immer wieder neue Änderungen einführen, können wir uns damit strategisch „wach“ halten.

Jetzt bist du dran.

Denkst du, du hast jetzt genug Wissen, um das Gelernte in die Tat umzusetzen?

Nimm dir jeden Tag 5 Minuten Zeit und übe bewusst Variation und Improvisation beim Singen.

So wirst du präsenter und kreativer beim Singen.

Schreibe mir, wie es dir dabei ergangen ist und welche Veränderungen du bemerkt hast. Ich freue mich über dein Feedback und deine Anregungen für die nächsten Newsletter-Ausgaben.

In der kommenden Ausgabe geht es um das Thema Lampenfieber.

Bis nächste Woche!

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