Talent, nur eine Ausrede?

Nach Auftritten erhalte ich immer wieder das Kompliment, ich hätte eine schöne Stimme. Obwohl das sicher gut gemeint ist, hat mich diese Bemerkung immer etwas gestört: Wird meine Stimme als schön angesehen, weil ich dafür nichts kann, oder weil ich gut singen kann, was wiederum das Ergebnis harter Arbeit ist? Meiner Wahrnehmung nach wird mir in solchen Situationen eine Art angeborene Begabung oder Talent unterstellt.

Damit möchte ich ein für alle Mal aufräumen.

Laut Wikipedia wird Talent oder Begabung als besondere Anlage einer Person definiert, die zu überdurchschnittlichen Leistungen auf einem Gebiet beiträgt. Oft wird sie als angeborenes Potenzial angesehen, das unabhängig davon besteht, ob es sich bereits durch besondere Leistung manifestiert hat. Was heißt das nun genau?

Nehmen wir das Beispiel Jacob Collier, ein unfassbarer Musiker, der von seiner musikalischen Familie gefördert wurde und seit seiner Kindheit auf höchstem Niveau musikalische Erfahrungen gesammelt hat. Sein Umfeld und seine eigene harte Arbeit haben ihn zu dem gemacht, was er heute ist.

Es gibt keine eindeutigen empirischen Belege, die die Existenz von Talent als angeborene Begabung unterstützen. Wir sehen also zwei Probleme beim Gebrauch des Talentbegriffs: Erstens wird dadurch häufig harte Arbeit, die in der Perfektionierung einer Fähigkeit steckt,  abgewertet, zweitens dient es häufig als Ausrede, warum man es selbst nicht geschafft hat.

Bei mir war es ähnlich (ohne mich direkt mit Jacob Collier vergleichen zu wollen): Ich bin aufgewachsen in einem musikalischen Haushalt und begann früh mit dem Erlernen von Geige und Klavier. Die Weichen für meine musikalischen Ausprägungen wurden bereits früh gestellt und es war die Arbeit, die ich zusätzlich investierte, welche dazu führte, dass mir später gewisse Dinge leichter fielen als andere.

Die Debatte um den Talentbegriff ist natürlich nicht schwarz-weiß. Es gibt Bereiche, wie im Sport, wo genetische Voraussetzungen eine Rolle spielen. Aber selbst hier ist ohne harte Arbeit und Training der Erfolg unwahrscheinlich.

Die gute Nachricht ist, dass wir, wenn Begabung nicht existiert, selbst verantwortlich sind, wie wir unsere "Talentkiste" befüllen. Planung, Zielsetzung und die Entwicklung eines systematischen Ansatzes sind hierbei entscheidend.

Ich glaube, dass Talent oft eine Ausrede ist, für das Gefühl der “Minderwertigkeit”, wenn man sich mit anderen vergleicht. Wenn eine angeborene Begabung der Grund ist, lässt sich die Verantwortung hierfür natürlich viel leichter auf etwas abschieben, was man nicht selbst unter Kontrolle hat.

Dabei ist es völlig in Ordnung, auf unterschiedlichen Niveaus zu sein. Misst man seinem eigenen Gesang – um beim Thema zu bleiben – weniger Gewicht bei, als es andere tun, ist das Resultat selbstverständlich auch ein anderes. Prioritäten sind individuell und grundverschieden.

Wir sollten uns lieber auf die Faktoren konzentrieren, die wir jetzt kontrollieren können: unsere Hingabe, unsere Ausdauer und die Art, wie wir lernen und uns verbessern. Die Personen, mit denen wir uns vergleichen, können auch gleichzeitig unsere Idole werden

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